600 Jahre jüdische Kultur und Geschichte
Für aktives Erinnern
Verlegung von „Stolpersteinen“ in Meimbressen 2024
„Unrecht bleibt Unrecht“
Stolpersteine für Adolf Goldwein und 17 weitere Meimbresser Juden
von Dorina Binienda-Beer
Meimbressen. Die 1930-er Jahre: Für 70 jüdische Menschen bedeutet Meimbressen zu allererst Heimat. In 17 Familien leben sie über das 600-Seelen-Dorf verstreut, Seite an Seite mit ihren christlichen Nachbarn. Klein-Jerusalem wird Meimbressen damals genannt. Doch die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verändert alles. Einige wenige emigrieren früh, die meisten hoffen noch, dass alles nicht so schlimm werden möge. Aber es kommt schlimmer, als sich ahnen ließ. Ein Großteil der Meimbresser Juden stirbt unter dem Nazi-Regime einen grauenvollen Tod. Wer der Deportation noch zuvorkommen kann, lässt Hab und Gut zurück, flüchtet mit ungewisser Zukunft in ein fernes Land. Von den Überlebenden kehrt niemand endgültig nach Meimbressen zurück. An Namen und Schicksale will der junge Verein Judaica in Meimbressen erinnern – mit 18 weiteren Stolpersteinen. Die ersten beiden waren 2019 auf Initiative des Geschichtsvereins verlegt worden.
Etliche der kleinen Messingtafeln, die in diesen Tagen vor ehemaligen Wohnhäusern Meimbresser Juden in den Bürgersteig eingelassen werden, konnten dank Spendern finanziert werden. Zu jenen, denen auf diese Weise gedacht wird, zählt Adolf Goldwein (Jahrgang 1891). Dieser Name ist dem Meimbresser Schreinermeister Friedhelm Dilcher, 71, seit Kindheitstagen vertraut. „Der Schlaumes“, wie Adolf Goldwein seinerzeit von seinen Mitbürgern aus heute unbekannten Gründen genannt wurde, wohnte nicht nur gleich um die Ecke. Er und Dilchers Großvater Karl pflegten regen Kontakt, geschäftlich und privat. Der kleine Friedhelm sperrte früh die Ohren auf, wenn nach dem Krieg am Küchentisch der Schreinerfamilie von ihm und den anderen einheimischen Juden immer wieder mal erzählt wurde. Da gab es viele Anekdoten aus dem gemeinsamen Dorfleben.
Jahrzehnte später für den „Schlaumes“ einen Stolperstein zu spenden, kam Dilcher sofort in den Sinn, als der Judaica-Verein seine geplante Gedenkaktion bekanntmachte. Wer fragt, was ihn umtreibt so viele Jahrzehnte nach den dramatischen Ereignissen von damals, bekommt von Dilcher zur Antwort: „Unrecht bleibt Unrecht.“ Die Juden seien ein fester Teil der Dorfgemeinschaft gewesen, bis das Grauen auch über Meimbressen hereinbrach. „Und ich bin ein Teil von Meimbressen.“ Der auch allgemein geschichtsinteressierte Ortsvorsteher fühlt sich berührt von der Leidensgeschichte der NS-Opfer und empfindet Verantwortung, in seinem Heimatort die Erinnerung an sie und das Geschehene wachzuhalten. Das gefällt nicht allen. Vorwurfsvollen Aussagen wie „Ich habe doch keine Schuld“ hält Dilcher entgegen: „Sei froh, dass du diese Schuld nicht tragen musst.“
Um die Frage nach der Schuld kam auch die eigene Familie nicht herum. Dilchers Vater Erich sah sich als 18-Jähriger gezwungen, beim Pogrom gegen die jüdischen Mitbürger dem zerstörerischen Befehl der SA an die Hitlerjugend Folge zu leisten. Mit einem Knüppel schlug er an die hölzernen Fensterläden des jüdischen Nachbarhauses. Er hat sich später dazu bekannt und sagte nach dem Krieg in einem Spruchkammerverfahren als Zeuge aus. Dass der Vater „niemanden verletzt und keine Scheiben eingeschlagen hat“, ist Dilcher zumindest eine Beruhigung. Sein Fazit zu den Gräueltaten in Meimbressen: Man kann nur Lehren ziehen, wenn man sich seiner eigenen Geschichte stellt, und sei dies noch so schmerzlich.
Adolf Goldwein, der enge Bekannte des Großvaters, gehörte zu jenen Meimbresser Juden, die den Holocaust überlebten. Zusammen mit Ehefrau Bertha und den zwei Kindern gelang ihm 1939 die Flucht in die USA. Vor dem erzwungenen Abschied aus Meimbressen machte der jüdische Nachbar Drechsler Karl Dilcher ein Geschenk: seinen Schreibtischstuhl. Den hält die Familie bis heute in Ehren. Von Adolf Goldwein und seiner Frau haben Dilchers nie wieder etwas gehört.
HINTERGRUND
Überlebt, aber in wirtschaftlicher Not
Der Viehhändler Adolf Goldwein betrieb mit seiner Frau Bertha in Meimbressen auch ein Lebensmittelgeschäft. Die Familie wohnte und arbeitete unterhalb des Kirchbergs. Nach dem Novemberpogrom von 1938 zählte Adolf Goldwein zu der Gruppe jüdischer Männer, die festgenommen wurden. Bis zum 10. Dezember 1938 war er im KZ Buchenwald inhaftiert, wurde aber nach Vorweisen seines Frontkämpferscheins entlassen. Dem Ehepaar gelang 1939 zusammen mit seinen zwei Kindern die Flucht in die USA. Dort fand der ehemalige Viehhändler jahrelang keine Arbeit und blieb damit ohne Einkommen. Später übte er die körperlich schwere Arbeit eines Ledersortierers aus, die wirtschaftliche Situation der Familie blieb prekär. Adolf Goldwein starb 1954 63-jährig in New York, seine Frau Bertha überlebte ihn um 13 Jahre.
Veröffentlicht in der HNA-Hofgeismarer Allgemeine vom 13. September 2024; engl. transl.