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Zeuge der Zeitzeugen

Volkmarser Ernst Klein dokumentiert jüdische Schicksale weltweit – Heute wird er 80

 

von Heike Saure und Thomas Thiele



Calden/Hofgeismar/Volkmarsen. – Ernst Klein wird als Zeuge der Zeitzeugen bezeichnet. Diese Formulierung passt perfekt auf den Volkmarser, der heute 80 Jahre alt wird. Denn über die Jahre hat er in 600 Ordnern angehäuft, was er von Zeitzeugen über ihre Erlebnisse mit dem Naziregime
erzählt bekommen hat. Sein umfangreiches Wissen stützt sich also
nur zum Teil auf Recherchen in Archiven in ganz Europa, sondern auch auf Erzählungen, die er aus erster Hand von Betroffenen gesammelt hat. Das ist eine wissenschaftliche Methode, die als „oral history“ (mündliche Geschichte)anfangs bei Historikern belächelt wurde, heute aber anerkannt ist. Klein gilt als einer ihrer Wegbereiter und ist
stolz, mit so vielen Wissenschaftlern zu kooperieren. „Ich bin nicht der mit den Juden, sondern der mit der Geschichte. Aber einer, der die Geschichte der Juden nicht ausklammert“, fasst Klein sein Ehrenamt zusammen.


Den Anstoß zu seinen Forschungen gab sein schon früh verstorbener Vater, der ihm bei Spaziergängen durch Volkmarsen immer erklärte, wer in welchen Häusern gelebt hatte und wo die Juden ihre Geschäfte gehabt haben. Das ließ ihn lange nicht los und gemeinsam mit seiner Frau Brigitte, mit der er auch das gemeinsame Unternehmen aufgebaut hat, begann er mit der Recherche. Seit 1980 noch auf eigene Faust, ab 1995 als einer der Mitbegründer des Vereins Rückblende - gegen das Vergessen. In einer Welt ohne Internet bedienten sich die Kleins einer unkonventionellen Methode, um ehemalige jüdische Bewohner Volkmarsens und Umgebung ausfindig zu machen. Sie schalteten Zeitungsannoncen in Jerusalem, New York und Buenos Aires und erhielten tatsächlich Antworten. Anfangs reserviert, da es sich ausnahmslos um Juden handelte, die entweder geflüchtet waren oder ein Konzentrationslager überlebt hatten und alle große Teile ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg verloren hatten. Doch im Laufe der Jahre entstanden tiefe Freundschaften. „Für manche sind wir zur Familie geworden, die sie nicht mehr hatten“, sagt Klein tief bewegt darüber, dass er es geschafft hat, Brücken zu bauen zwischen Ländern und zwischen Menschen, bei denen kaum noch Hoffnung auf gegenseitige Achtung und Freundschaft bestand.


Und genau diese Dankbarkeit und Wertschätzung ist der Antrieb für Ernst Klein, seine Forschungen weiter zu betreiben. „Du bekommst immer mehr zurück als du gibst“, kann er rückblickend sagen. Besonders viel bekommt er in seinen Besuchen von Schulklassen zurück. Es sei ihm Geschenk und Verpflichtung zugleich, seine Erfahrungen weiterzugeben. „Ich möchte die Urteilsfähigkeit des Einzelnen durch Wissensvermittlung stärken“, so Klein, der sich gegen das Vergessen und für das Begreifen einsetzt. Er forscht auch im Kreisteil Hofgeismar, ist im Vorstand des Vereins Judaica in Meimbressen und hat enge Kontakte zur Judaica-Abteilung im Stadtmuseum Hofgeismar.


Sein Wissen hat der Jubilar, der sich auch in Zeiten des stärker werdenden Gegenwinds nicht wegducken möchte, in etlichen Publikationen zusammengetragen. Gewürdigt wurde seine Arbeit vielfach, etwa mit dem Marion-Samuel-Preis der Stiftung
Erinnerung.


Von Turnverein bis Bundesvorstand

Ernst Klein wurde am 17. Februar 1944 in Volkmarsen geboren. Seine Mutter verlor er schon ein Jahr später, sein Vater verstarb, als er das Bad Arolser Gymnasium besuchte. Dieses brach er aufgrund des Todes seines Vater mit der mittleren Reife ab und begann eine Ausbildung bei der Raiffeisenbank. Nach zweijährigem Wehrdienst wechselte er die Branche und arbeitete schnell in verantwortlicher Position bei Gelberg-Fenster.
1974 traf er mit seiner Frau Brigitte die Entscheidung, sich mit einem Betrieb für Fenster selbstständig zu machen. „Ich habe früh gelernt, dass man sich eine Marktlücke suchen muss“, erinnert sich Klein, der seinen beruflichen Schwerpunkt auf die Fenstersanierung in denkmalgeschützten Häusern, Schallschutz und Wintergärten gesetzt hat. Das Paar hat zwei Kinder.


Klein hat sich nicht nur der Erforschung des jüdischen Lebens in Nordhessen verschrieben, er stand auch dem TV Volkmarsen 20 Jahre als Vorsitzender voran. Er gehört dem Bundesvorstand des Vereins „Gegen das Vergessen - für Demokratie“ an und wurde sowohl in die Historische Kommission für Hessen als auch in die Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen als wissenschaftliches Mitglied berufen.

 

Veröffentlicht in der HNA-Hofgeismarer Allgemeine vom 17. Februar 2024

 

 

Laudatio Dr. Michael Dorhs vom 17. Februar 2024

 

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